Früher dachte man, Austern bilden Perlen, wenn ein Fremdkörper in sie eingedrungen war. Ein winziges Sandkorn oder so. Man nahm an, dieses Sandkorn werde von der Auster mit Perlmutt ummantelt, um es unschädlich zu machen.
Heute weiß man, dass diese Annahme nicht stimmt. Warum sollte ein profanes Sandkorn auch eine an das Leben auf dem Meeresgrund angepasste Auster stören? Da gibt’s ja außer Wasser, Sand, Fischen, Sand, Korallen und noch mehr Sand nicht viel. Stattdessen geht man heute davon aus, dass Perlen entstehen, wenn ein Parasit ins Innere der Auster gelangt und sie verletzt. Dann ummantelt die Auster den Parasit mit Perlmutt und macht ihn unschädlich. Ich habe auch von Verletzungen des Mantelgewebes gelesen, wenn ein Feind es schafft, durch die wirklich sehr harte Schale der Auster zu dringen und die Muschel im Innersten zu verletzen. Die so entstandene Zyste wird von der Auster ebenfalls ummantelt und es entsteht eine Perle.
Die letzten 6 Monate waren hart. Fremde Menschen sind in unser System eingedrungen und ich hab sie selbst gerufen. Eine Institution, die uns eigentlich hätte schützen sollen, uns hätte helfen sollen, verweigerte ganz aktiv die von mir sehr konkret angeforderte Hilfe und damit die Art Entlastung, die ich so dringend gebraucht hätte. Stattdessen schickte die Institution Menschen, die fortan Woche für Woche hier aufschlugen, sich unsere Privaträume, Schlafzimmer, Kinderzimmer ansahen, an mir herumkritisierten. Sie verstanden meine Beweggründe nicht, forderten mich immerzu heraus, beobachteten jeden Schritt. Wir hatten sogar Menschen hier, die Familiensituationen mit einer Kamera aufnahmen, um unsere interne Kommunikation zu analysieren. Das Gefühl, mich andauernd rechtfertigen zu müssen und tägliche Angst, dass wir im Endeffekt nicht gut genug sind, nicht genug mitarbeiteten und unseren Alltag so grundlegend falsch leben, dass diese Menschen empfehlen würden, unsere Kinder aus der Familie zu holen, saß und sitzt tief.
Ich bin aufgewachsen in dem Wissen, dass nur die braven Kinder geliebt werden. Wer ruhig und leise ist und brav mitmacht, wird nicht bestraft. Das ist eines meiner stärksten Muster und ich bin mir dessen sehr schmerzhaft bewusst. Dieses Muster bringt mich dazu, ja statt nein zu sagen, zu lächeln, wenn ich die Augen verdrehen will und oftmals bringt es mich auch dazu, mich nicht zu wehren. So wie in dem Fall, als uns statt einer Haushaltshilfe eine Erziehungshilfe geschickt wurde, die mir Aromatherapie empfahl, als sie bemerkte, dass sie eigentlich überflüssig war. Die Erziehung unserer sehr fordernden Kinder wäre nämlich kein Problem, wenn der MentalLoad nicht so hoch wäre. Haushalt machen, Garten pflegen, den Hund bespaßen, Schulwege, Fahrtwege zu Therapien und anderen Terminen, ständige Kommunikation nach außen und zusätzlich ein Kindergarten, der die Gnömin mit Gewalt in eine Schublade zu pressen versuchte, in die sie nicht passt. Das wuchs mir über den Kopf und genau dabei wurde mir eben NICHT geholfen. Stattdessen wurde ich kritisiert, weil ich meine von der hohen Rutsche gefallene Tochter tröstete, die Entscheidung, das Kind zu nehmen wie es ist und sowohl Diagnosen als auch geschlechtliche Identität nicht anzuzweifeln wurde sehr scharf kritisiert, man forderte medizinische Untersuchungen und dass ich dem Kind in bestimmten Lebensräumen verbieten solle, es selbst zu sein. Die romantisch verklärte Mary Poppins Fantasy ging nicht auf, statt eines gemütlich brummigen Pädagogen im Stil von Papa Bär bekamen wir einen steifen nicht greifbaren Pinguin vor die Nase gesetzt, der gewaltfreie Kommunikation als stilistisches Mittel einsetzte, um sich zu distanzieren (was GFK halt nicht mehr gewaltfrei macht). Er ignorierte unsere Ratschläge bezüglich der Kinder und wertete den Meltdown unserer 18kg schweren Tochter, den sein eigenes Fehlverhalten nach sich zog, als tätlichen Angriff auf sich selbst. Im direkten Gespräch wiegelte er ab, sei alles nicht so schlimm, er könne damit umgehen, etc, im Bericht steht tatsächlich der Begriff „tätlicher Angriff“.
Mehrere von mir begleitete Besuchstermine später ging er mit eben jenem Kind einkaufen und ließ sie im Laden ein bereits ausgepacktes Bonbon essen. Das allein schockierte mich schon, die Tatsache aber, dass er es uns mit keinem Wort sagte und darauf angesprochen jegliche Verantwortung an das 6 Jahre alte Kind abschob (‚die hat aber auch wenig Impulskontrolle, dass so ein Fehlverhalten vorkommt‘), machte mich sprachlos. Endlich war genug Wut vorhanden, diese Farce zu beenden.
Sechs Monate voller wöchentlicher Kontrolle liegen hinter uns. Sechs Monate, die mein System völlig auf den Kopf gestellt haben, mich verletzt und retraumatisiert haben, sechs Monate, in denen ich 24/7 selbst vor meinen engsten Menschen maskierte. Sechs Monate, in denen ich mehr als einmal in den Spiegel blickte und jemand Fremdes zurück schaute.
Ich bin die verdammte Auster. Und sie die Austernfischer, die es geschafft haben, mich zu knacken. Von meiner starken Schale ist kein Fetzen mehr übrig und da ich ehrlich keine Ahnung habe, wie ich sie neu bilden kann, trage ich als Ersatz eine Schale aus Wut mit mir herum. Darunter ist nur ein nackter roher wunder Klumpen Fleisch.