Zahlen

1, 2, 3 ,4… Ich verbinde Punkt um Punkt um Punkt auf dem Bildschirm meines Handys und es entsteht ein Bild.

23, 24, 25, wo ist 26? Ich sehe genauer hin, ah, da hat der Punkt sich versteckt. Punkt um Punkt, Zahl um Zahl, ich ziehe Strich um Strich, Verbindung um Verbindung. Ein wenig so, wie ich meine Vergangenheit rekonstruiere. In letzter Zeit tauchen vereinzelt lange vergessen geglaubte Erinnerungen auf. (41, 42, 42, …) Wie ich mit einem Malbuch auf dem Boden liege, neben mir eine ganz neue Packung Buntstifte, ganz für mich allein. Dieses Buch würde ich nicht teilen müssen. Nach Hause mitnehmen durfte ich es aber auch nicht, es ist eine Beschäftigung für uns, während wir zu Besuch bei Bekannten sind. Ich solle sie Onkel und Tante nennen, auch wenn sie es gar nicht sind. Ich male, vorsichtig, nicht über den Rand (156, 157, 157,…) male mit der Breitseite des Stiftes, um keine Striemen zu hinterlassen. Ich liege auf dem Bauch, das Malbuch vor mir, bin konzentriert, während nebenan die Erwachsenen reden. Sie haben mich schon längst vergessen, wie sie mich immer vergessen, es sei denn, ich soll etwas erledigen.

Wie spielt man mit Kindern? Ich weiß es noch heute nicht, finde spielen furchtbar anstrengend, mochte es nie. Ich lese lieber, lebe zwischen den Buchdeckeln, reise über Brücken aus Buchstaben in ferne Welten und erlebe Abenteuer dort, wo mich niemand finden, niemand verletzen kann. Wenn ich mich sehr anstrenge, machen Bücher mich noch heute unsichtbar. Früher war diese Art Zauberei nicht anstrengend, es war leicht, da ich eh oft übersehen wurde. Ich saß irgendwo weit oben, in einem Baum, auf der Rutsche, in der hintersten Ecke meines Etagenbettes – ich schlief oben – und ließ mich von Fuchur abholen, flog mit Peter nach Nimmerland, saß auf dem Karren bei Gandalf. Oder ich versteckte mich hinter einem Sofa, schlich mit Hanni und Nanni durchs Internat, beneidete das Nesthäkchen glühend um die schönen Puppen und die Aufmerksamkeit (311, 312, 313, …) oder sprang zusammen mit Madita vom Garagendach. Später verschlang ich Shakespeares gesammelte Werke, fasziniert von der puren Schönheit seiner Worte. Wer braucht schon Freunde, wenn er Bücher hat? Ich hatte keinen Beistand, im Gegenteil, aber ich hatte Harry und Peter und Wendy und Angelique, Ayla und die Amazonen von Darkover, deren Bücher ich meiner Mutter heimlich aus dem Regal klaute.

Ich zähle. Verbinde Punkt für Punkt, ziehe Strich um Strich. 421, 422, 423. Das Bild ist fertig. Vielleicht kaufe ich mir nächste Woche ein Malbuch. Keines für Erwachsene. Eines für Kinder. Eins für mich allein. Für mich und die Kleine.

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