Der schwarze Apfel

Ich sitze im Dunkeln. Innen, außen, abends, am Tag. Es ist düster in mir, dunkel, es ist die Dunkelheit, die mir durch meinen schnell hastig nach der Geburt ausgesuchten Namen in die Wiege gelegt wurde. Ursprünglich mit einem Namen belegt, der sowohl „die Widerspenstige“ als auch „die Schöne“ und „die von Gott Geliebte“ bedeutet, entschied meine Mutter sich direkt nach meiner Geburt anders und nannte mich die Dunkle. Böse Zungen sprechen auch von der Bedeutung „schwarzer Apfel“, was mich heute nur noch müde lächeln lässt, war ich doch immer das schwarze Schaf der Familie. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, nicht wahr?

Immer wieder zu meinem Namenstag hörte ich die Geschichte der Heiligen, nach der ich benannt war. Sie wuchs als Tochter eines mächtigen Mannes auf und wurde mit 13 Jahren gegen ihren Willen mit einem ebenfalls minderjährigen Jungen verheiratet. Die Ehe hatte zwei Kinder zur Folge, die beide nicht älter als 3 Jahre alt wurden. Als ihr Vater starb, stand sie unter gesetzlicher Vormundschaft. Über Umwege brachte sie den Kaiser dazu, selbst über ihr Erbe entscheiden zu dürfen. Statt das Geld zu nehmen, sich aus der unglücklichen Ehe zu lösen und ihre gute Ausbildung (sie sprach immerhin mehrere Sprachen und galt als reichste Frau des römischen Reiches) für ein Leben in Annehmlichkeiten zu nutzen, gab sie allen Wohlstand auf, gründete mehrere Pilgerklöster und starb schlussendlich verarmt und einsam in Jerusalem. Die letzten 50 Goldstücke hinterließ sie einem Bischof für soziale Projekte.

Wie meine Namenspatin war auch ich in einer Familie gefangen, die ich nicht wollte. Der Unterschied war lediglich, dass mir wesentlich weniger Geld zur Verfügung stand. Wie sehr ich mich als Kind mit Aschenputtel identifizieren konnte. Zwei Schwestern, die offenbar mehr galten als ich, eine geliebte große Tochter, ein mit Nachsicht überschüttetes Nesthäkchen und dazwischen ich, die Mittlere, der schwarze Apfel. Nie einfach ich selbst, immer entweder den Großen oder den Kleinen angehörig, je nachdem, ob ich etwas tun sollte (schon groß genug dafür) oder etwas tun wollte (zu klein dafür!). Ich war fest der Meinung, adoptiert worden zu sein, und daran änderte auch die Anwesenheit des Nachbarsmädchens nicht, die den Namen trug, der mir ursprünglich bestimmt worden war und die nur 5 Minuten vor mir im gleichen Kreissaal zur Welt gekommen war. Der lebende Beweis, dass ich nicht adoptiert war und dass die Geschichte meiner Mutter stimmte. Der Grund, warum ich kein Geschenk Gottes war, sondern eben der schwarze Apfel. Unerklärlicherweise verstanden wir uns zumindest eine Weile lang recht gut.

Es sollte Jahrzehnte dauern, bis ich mich von diesem fremdbestimmten Namen gelöst hatte. 2019 nahm ich mir einen anderen Namen, gab mir selbst eine andere Bestimmung und hielt mich nahe an dem ursprünglich für mich bestimmten Namen. Mary bedeutet neben die Geliebte auch die Bittere und ja, das passt. Denn bitter bin ich geworden. Es bedeutet aber auch „die Ungezähmte“ und das ist es, was ich mir für mich selbst wünsche. Ungezähmt und geliebt sein, so wie ich bin.

Eine mir sehr wertvolle Person in meinem Leben schrieb mir vor Jahren einen Brief, den ich hüte wie einen Schatz. In diesem Brief steht, es scheine zwar so, als sei ich leise geworden, weniger kämpferisch, aber das stimme nicht. Ich sei unbeugsam und stark und stelle mich meinem Weg. Worte, die ich schon als kleines Kind hätte hören müssen. Worte, die ich hervor hole und lese, um die Stimmen in mir zu besänftigen.

Es sind Tage wie diese, an denen die Dunkelheit um mich herum so stark, so alles betäubend ist und der Weg aus diesem Tal endlos scheint. Tage wie diese, an denen ich mich mehr den je wie der schwarze Apfel fühle und wenig stark und unbeugsam. Es ist dieser Brief, an den ich mich wie einen Rettungsanker klammere, wenn ich mir selbst nicht mehr glaube, denn ich weiß, der Mensch, aus dessen Feder diese Worte stammen, lügt nicht.

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