Erinnerungen

Bilder wirbeln in meinem Innern durcheinander. Erinnerungen an erlebtes, an gelesenes, an eingebildetes?

Ein Kirchenschiff, ein weißes Kleid, ich zwischen meinen Eltern, mein Vater ausnahmsweise einmal nüchtern oder zumindest nur so betrunken, dass er noch gerade gehen konnte. Meine Konfirmation. Eine lange Kaffeetafel, ein Ehrenplatz an der Kopfseite, meine erste Tasse Kaffee. Mit der Kommunion kam das Privileg, Kaffee trinken zu dürfen. Er schmeckte scheußlich, aber ich wollte mir dieses Erwachsenenrecht um keinen Preis nehmen lassen.

Ein Abendessen, laute Stimmen, Schreie, Splitter von Geschirr und das Gefühl, meine Schwester jetzt sofort in Sicherheit bringen zu müssen. Ich war ungefähr drei oder vier, jünger als mein jüngstes Kind jetzt. Ich glaube, dass war der Moment, an dem ich meinen Platz in der Familie fand. Als Kümmerin, als diejenige, die die anderen in Sicherheit brachte, die den Schwestern vorlas („du hast ja schon mit drei unter dem Tisch gesessen und M. vorgelesen“) später mit den Schwestern Hausaufgaben machte, den Vater aus der Kneipe holte und zwischen den streitenden Eltern vermittelte. Noch heute vermittel ich, immer, übersetze, schlichte, beschwichtige und klingel nicht einmal Fußgänger zur Seite, weil ich sie ja stören könnte und ich mich doch immer um alle kümmere und eben niemanden störe.

Ich war 6 Jahre alt, als wir oben bei unserem Nachbarn waren und er mir die Zunge in den Hals steckte. Er hatte mich gefragt und ich hatte ja gesagt, denn hey, ich kümmerte mich doch immer um alle, also auch um ihn, den Soldaten auf Wochenendfreigang. Es hat mich über 20 Jahre meines Lebens gekostet zu verstehen, dass es nicht meine Schuld gewesen war. Es hat ihn 6 Monate auf Bewährung gekostet und den Staat 18 DM Zeugengeld. Von diesen 18 DM kaufte ich mir einen Walkman, auf dem dann David Hasselhoff in Dauerschleife lief. Ich weiß immer noch nicht, ob an diesem Tag nicht mehr passiert ist. Ich frage mich seit Jahren, warum dieses vergleichsweise harmlose Ereignis mich so fertig macht – wie wenig Resilienz kann ein Mensch haben?

Viele Jahre später leitete ich ein Internet-Forum für Frauen wie mich. Im Nachhinein stellte sich das als eine wirklich dumme Idee heraus, denn was wir alle tatsächlich gebraucht hätten, wäre eine Therapie gewesen. Stattdessen bauten wir uns ein Forum, ein Haus mit einem Zimmer für alle, einer Gemeinschaftsküche und einem sicheren Garten für alle verletzten Kinder in uns. Es dauerte nicht lange, da tauchten die ersten Kinderanteile auf, Persönlichkeiten von Mitgliedern, die schreckliche Dinge erzählten. Und so sehr andere geschockt darauf reagierten, desto mehr zuckte ich mit den Schultern, denn es verwunderte mich nicht. Es schockt mich nicht, wie abgrundtief böse Menschen sein können, was sie anderen antun und mit welchen Methoden. Ich kümmerte mich, hörte zu, versuchte zu helfen. So wie immer.

Und jetzt? Jetzt wirbeln Dinge in meinem Kopf durcheinander, eigene Erinnerungen, Erlebtes (wie die Verzweifelung, als meine Eltern uns am Straßenrand aussetzten und einfach wegfuhren, weil wir auf der Rückbank gestritten hatten und die Dankbarkeit, die meinen Körper wie eine warme Welle flutete, als ich die Bremslichter sah und sie warteten, bis wir den Wagen wieder eingeholt hatten und wir wieder einsteigen durften), Gelesenes (vage verschwommene Fetzen aus Truddi Chases Aufschrei, dass ich viel zu früh gelesen hatte und deutliche Erinnerungen an SM/Snuff-Porn, den ich besser gar nicht hätte lesen sollen, beides aus dem Nachttisch meiner Mutter geklaut), erzählte Schauergeschichten über Flucht, Heimleben und Vergewaltigungen.

Ich lese gerade ein Fachbuch über die Entstehung multipler Persönlichkeiten. Ich möchte wissen, was bei mir los ist und Wissen anhäufen vermindert meine Angst. Also lese ich, informiere mich, denke nach. Viel von dem, was ich lese, passt. Vieles nicht. Bin ich ein System? Ja, nein? Ich oder wir? Oder eine Graustufe? Irgendwas dazwischen? Blödsinn, sagt der eine Gedanke. Kann schon sein, wirft ein anderer ein. Nein, soviel ist doch gar nicht passiert, sagt ein weiterer. Weißt du es denn sicher? fragt der nächste. Soviele Gedanken, Stimmen, Aspekte. So wenig Resilienz. Oder doch viel?

Und dann sitze ich neben dem 5jährigen im Bett und er turnt herum, statt zu schlafen und irgendetwas – irgendwer – zischt in mir: „Ich weiß schon, warum ICH keine Kinder bekommen habe!“ und erinnert daran, wie schlimm die Schwangerschaft war, wie schlecht ich (wir? Der Körper?) sich gefühlt hat und wie schnell aus Kinderwunsch und Vorfreude Ablehung und Suizidalität wurde. Und ich frag mich, wer zur Hölle das war – ich war es jedenfalls nicht.

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