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Jonglage

Ich funktioniere. Eigentlich bin ich erstaunt, dass ich nicht längst zusammen gebrochen bin. Aber, ich funktioniere. Natürlich. Irgendjemand muss es ja tun.

Der Herzmensch ist zu 70-80% bettlägerig. Normales Familienleben ist zuviel, wenn die Kinder spielen, lachen, rangeln bereitet die Geräuschkulisse hen körperliche Schmerzen, die sich teilweise lebensbedrohlich anfühlen. Um dem zu Entgehen und damit die Kinder eben weitestgehend Kinder bleiben können, zieht der Herzmensch sich zurück. Hen liegt erschöpft im Bett, schläft oder ruht sich aus. Um wenigstens fit genug zu sein, wenn ich mit dem Großen bei dessen Therapien bin. Ich kann das Gnöm dann nicht mitnehmen, also sitzt es neben Papa, die Haustür ist abgeschlossen und Gnöm spielt Tablet. An guten Tagen kann Papa auch MauMau mit dem Kind spielen, an den meisten Tagen geht das nicht.

Wir haben Sonntag endlich über den Elefanten gesprochen, der hier alles kaputt trampelt. Haben Ängste ausgesprochen, die so bedrohlich real zu werden scheinen. Der Große hat Angst, dass Papa noch viel schlimmer krank würde und macht bereits Pläne, wie wir unser enges Reihenhaus barrierefrei gestalten können. Treppenlifte, Rollator, Rollstuhl, Duschstuhl, was brauchen wir denn alles? Das Kind verbalisiert diese Ängste leider nicht wirklich, wollte auch Sonntag  nicht darüber sprechen. Stattdessen hat er undefinierbares Bauchweh und Kopfschmerzen, wenn er zur Schule soll, lässt sich früher abholen und ist heute gar nicht in der Schule. Er sitzt auf dem Sofa, strickt, spielt Switch und hört Hörspiele. Das Kind hat viel Angst, macht sich Sorgen um Papa und um sich und um die Klimakatastrophe und ich bin sehr froh, dass er in Therapie ist, auch wenn ich nicht verstehe, wie Tennis spielen und Musik machen ihm helfen soll. Aber es wirkt. Irgendwie.

Das Gnöm versucht, sehr tapfer zu sein und nicht zu weinen. Er kam gestern zu mir und sagte, er wünschte, er könne die Zeit zurück drehen. Ja Gnöm. Ich auch. Er hat große Angst, dass ich auch noch krank werde. Glücklicherweise kommt er gut in der Kindergartengruppe an (das war letztes Jahr sehr schwierig aufgrund von Mobbing durch die großen Kinder, die jetzt in die erste Klasse gehen) und erzählt mir täglich, mit wem er Freundschaft geschlossen hat. Mal sehen, wie lange er noch am Kindergarten teilnehmen darf – die Elterninitiative kämpft um eine neue Betriebserlaubnis und hat schwere Auflagen vom Amt bekommen. Ich werde mich aufgrund der ASS-Diagnose des Kindes jetzt also mit dem (sehr uneinsichtigen) Vorstand, dem paritätischen Dienst und dem Jugendamt auseinander setzen müssen. Eine Vorwarnung gab es nicht, dass es so ein Gespräch eventuell geben müsse, dass sei „nicht Aufgabe der Erzieherin“ und jetzt weiß ich auch nicht. Ich bin kurz davor, das Gnöm aus dem Kindergarten zu nehmen, aber Wut ist selten ein schlechter Ratgeber.

Und ich bin wütend. Rotglühend, destruktiv, abgrundtief wütend. Auf den Kindergarten, auf den Vorstand, auf die Menschen, die seit zwei Jahren dem schleichenden Verfall meines Herzmenschen zusehen und dennoch nicht betroffen genug sind, um eine Maske zu tragen. Menschen, die kurz nach überstandener Covid-Infektion auf den Freimarkt gehen, die sich wissentlich positiv ins Flugzeug setzen, die einsichtig genug sind, um zuzugeben, dass sie in Innenräumen eine Maske tragen sollten, aber es einfach nicht tun, weil es ihnen offenbar egal ist. Ich bin wütend, dass ich immer und immer wieder die Situation des Herzmensch erkläre und es niemanden zu kümmern scheint. Ich bin wütend auf die Therapeutin, die mir in den Stunden mit Teebeutelweisheiten kommt, bis in mir alles höhnisch lacht und sie als inkompetent wahrgenommen wird, die Wechsel als „sie können sich ja doch beruhigen“ deutet und nicht zu verstehen scheint, dass hier eine anp am Werk ist, die sich um alle kümmert und deren Wut immer weiter wächst.

Aber da es nunmal gesellschaftlich verpönt ist, Menschen auf der Straße zu verprügeln oder gegen Autos zu treten (wenn man nicht gerade so ein Baseballschläger – Schrottplatz – zertrümmer das Auto Event macht), richtet sie, richte ich diese Wut gegen mich selbst. Und bin selbst darin noch hochfunktional. Ich nehme meine Tabletten und habe das AD sogar erhöht. Ich schlafe wenig bis gar nicht, habe aber ein bis zwei Tage in der Woche, in denen ich spätestens um 21 Uhr einfach umfalle und schlafen gehe. Tägliche Bedürfnisse wie duschen werden vernachlässigt.  ich rauche zu viel und gebe dafür den Gedanken an Alkohol nicht nach. Ich esse zu wenig, aber genug, um den „hunger dich auf 50kg runter“ Stimmen in meinem Kopf nicht nachzugeben. Ich organisiere. Unser Leben, E-Mails, den Alltag, den Haushalt, meine Wut, meine Selbstzerstörung. Und ich organisiere gut.

365

Seit nunmehr 40 Jahren spielt Alkohol in meinem Leben eine Rolle. Aufgewachsen mit einem trinkenden Vater, der eine Flasche Jägermeister brauchte, um überhaupt aus dem Bett zu kommen und einem nicht weniger trinkenden Großvater war es keine Seltenheit, dass beide sich in die Haare bekamen, wer wem den Stoff weggesoffen habe. Harsche Worte und Schlägereien inklusive. Ich erinnere mich an eine zersplitterte Glastür und ein gebrochenes Bein, an Flaschenverstecke in Stiefeln und Samstagnachmittage in der Kneipe, wo ich bettelte, dass mein Vater nach Hause käme. Ich erinnere mich an fliegende Teller beim Abendbrottisch und wie stolz ich war, dass mein Vater an meiner Kommunion an meiner Seite war, ausnahmsweise nüchtern. Woran ich mich nicht erinnere, sind die Schläge durch meinen Vater und das gewürgt werden von meinem Großvater, der wahrlich ein verbitterter bösartiger alter Mann war.

Als ich auszog, geriet ich an einen anderen Süchtigen. Er holte sich seinen Kick nicht durch Alkohol, sondern durch Klauen. Alle meine Partner hatten das eine oder andere Suchtproblem, Nikotin, Drogen, Alkohol, Spiele, Sex, Adrenalin. Dann kam mein Ehemensch, ebenfalls Kind einer Alkoholikerfamilie. Hen trank, seit hen Jugendlicher war und hatte das Suchtproblem erkannt. Hen schaffte es weg vom täglichen Trinken, doch es blieb Thema. Bei uns beiden.

Wie schnell war das Feierabendbier zum runterkommen auf dem Tisch oder das Gläschen Wein zum Entspannen? Bei uns ging das schneller, als uns lieb war. Immer mal wieder zogen wir die Reißleine, machten Pausen, sagten, so geht das nicht weiter. Immer wieder fingen wir irgendwann wieder an. Einmal ist keinmal? Doch. Bei Sucht schon. Letztes Jahr im August standen in meinem Zimmer gute 15 leere Flaschen Wein herum und ich trank täglich. Oft schon vor 16 Uhr und teilweise auch ohne den Umweg über das Glas zu nehmen. Ich beschloss, dass es so nicht weitergehen könne. Und so kam es, dass ich vor 367 Tagen eine wirklich sauteure Flasche Wein kaufte. Vor 366 Tagen, an meinem 40. Geburtstag, stießen wir also mit diesem Wein an, auf mich, meinen Geburtstag und ein Leben ohne Alkohol. Und dann hörte ich auf. Und jetzt bin ich seit fucking 365 Tagen ohne Alkohol. Nicht ohne den Gedanken daran, nope. Aber ich trinke nicht mehr. Denn so eine Kindheit wie meine sollen unsere Kinder nicht haben.

Bestandsaufnahme

Die Ferien sind vorbei und wir sind wieder mitten im Alltag.

Zwischen Schule, Therapie und Kindergeburtstagen hält der Herbstzwerg sich super. Seine Klassenlehrerin hat ihm einen Einzelplatz ganz weit vorn gegeben, etwas abseits von all dem Trubel der Klassengemeinschaft und durch seinen besten Freund abgeschirmt, der hinter ihm sitzt. Ich mag die Frau einfach, die ist wirklich sehr lieb und bemüht. Der Sohn wächst über sich hinaus, fährt alleine Rad, entdeckt die Welt, traut sich, nein zu sagen, auch wenn zig Kinder neugierig auf ihn gucken. Der Besuch im Kletterwald Anfang der Woche hat ihm Selbstvertrauen gegeben und es war sicher nicht das letzte Mal, dass wir da waren.

Das Gnöm wird in nicht ganz vier Wochen fünf Jahre alt. Ob die Schwierigkeiten, die er im letzten Jahr im Kindergarten hatte, so weitergehen, wird sich zeigen. Ich denke, es ist viel Ärger schon allein deshalb weg, weil keine gelangweilten Vorschulkinder mehr da sind, die sich die Zeit mit Mobbing vertreiben. Er gehört jetzt selbst zu den drei ältesten, auch wenn er erst in zwei Jahren zur Schule gehen wird. So hat er genügend Zeit, soziale und emotionale Kompetenzen aufzubauen und wird in seiner späteren Klasse auch nicht der jüngste sein. Am Montag geht der Schwimmkurs für ihn los, das wird spannend.

Dem Seelenmensch geht es weiterhin durchwachsen. Mal ist es gut, mal schlecht. Das tückische ist, dass hens Leistungs- und Erschöpfungslevel nicht konstant ist, sondern minütlich schwankt. Im Oktober haben wir Beratungstermin beim Sozialverband bezüglich eines Rentenantrags, vorher ist leider nichts zu machen. Schön ist, dass sich hens Einstellung zum Hund geändert hat. Der Fluff ist nicht mehr nur meinetwegen geduldet, sondern als vollwertiges Familienmitglied akzeptiert und das bringt eine Veränderung der Beziehung zwischen den beiden mit sich, die sehr schön zu beobachten ist.

Insgesamt ist es gerade einfacher. Die Kinder halten sich gut, die Geschwister-Beziehung hat sich stabilisiert. Natürlich streiten sie, aber gerade der Große lehnt das Gnöm nicht mehr überwiegend ab. Es ist spürbar, dass drei von vier Familienmitgliedern in Therapie sind, es verändert sich etwas hier und das fühlt sich nicht schlecht an.

Ich selbst – nun ja, die Tür nach innen ist wieder einen Spalt breit zugegangen. Ich hab das Gefühl, da ist wieder die gewohnte ANP am Werk, schnörkellos, kümmernd, ohne Ich-Beziehung. Deckel drauf, Tür zu, wie auch immer. Auf Dauer für mich nicht so geil, aber so läuft zumindest der Alltag hier. Hm. Ich knüpfe neue Bekanntschaften, vertiefe alte Bekanntschaften und warte mal ab, was da noch kommt.

Taub

„Haben Sie studiert?“ fragt der Kinder und Jugendpsychiater mich. Wir sitzen zusammen und unterhalten uns über die Diagnostikergebnisse des kleinen Kindes. „Ja, Germanistik und Religionswissenschaft.“ „Ach,“ er legt den Kopf schief und deutet ein Lächeln an, „das ist interessant. Glauben Sie an Gott?“

Ich halte das Kichern zurück, dass in meiner Brust kribbelt. Es würde hysterisch klingen, verzweifelt. Es ist zuviel passiert, möchte ich antworten. Ich habe meinen Glauben lange retten können, über die Baby- und Kleinkindjahre mit dem großen Kind, die so unfassbar schwierig waren, über die Zeit, als unsere Gemeinde sich auflöste und ich geistig heimatlos wurde, über drei Jahre voller Angst, während wir auf das Urteil des Gerichts warteten, als die Ex meines Ehemenschen hen fälschlicherweise wegen Vergewaltigung in schwerem Falle angezeigt hatte. Es sind viele Dinge passiert, die mich taub werden ließen gegen Gottes Stimme, bis ich ihn schließlich nicht mehr hörte. Jahre voller Angst, Erinnerungen und Depressionen, Jahre voller Orientierungslosigkeit und ohne Hoffnung. Die alte Theodizeefrage, nur bin ich nicht Hiob und habe kein neues Leben.

„Nicht mehr.“ sage ich mit fester Stimme.