365

Seit nunmehr 40 Jahren spielt Alkohol in meinem Leben eine Rolle. Aufgewachsen mit einem trinkenden Vater, der eine Flasche Jägermeister brauchte, um überhaupt aus dem Bett zu kommen und einem nicht weniger trinkenden Großvater war es keine Seltenheit, dass beide sich in die Haare bekamen, wer wem den Stoff weggesoffen habe. Harsche Worte und Schlägereien inklusive. Ich erinnere mich an eine zersplitterte Glastür und ein gebrochenes Bein, an Flaschenverstecke in Stiefeln und Samstagnachmittage in der Kneipe, wo ich bettelte, dass mein Vater nach Hause käme. Ich erinnere mich an fliegende Teller beim Abendbrottisch und wie stolz ich war, dass mein Vater an meiner Kommunion an meiner Seite war, ausnahmsweise nüchtern. Woran ich mich nicht erinnere, sind die Schläge durch meinen Vater und das gewürgt werden von meinem Großvater, der wahrlich ein verbitterter bösartiger alter Mann war.

Als ich auszog, geriet ich an einen anderen Süchtigen. Er holte sich seinen Kick nicht durch Alkohol, sondern durch Klauen. Alle meine Partner hatten das eine oder andere Suchtproblem, Nikotin, Drogen, Alkohol, Spiele, Sex, Adrenalin. Dann kam mein Ehemensch, ebenfalls Kind einer Alkoholikerfamilie. Hen trank, seit hen Jugendlicher war und hatte das Suchtproblem erkannt. Hen schaffte es weg vom täglichen Trinken, doch es blieb Thema. Bei uns beiden.

Wie schnell war das Feierabendbier zum runterkommen auf dem Tisch oder das Gläschen Wein zum Entspannen? Bei uns ging das schneller, als uns lieb war. Immer mal wieder zogen wir die Reißleine, machten Pausen, sagten, so geht das nicht weiter. Immer wieder fingen wir irgendwann wieder an. Einmal ist keinmal? Doch. Bei Sucht schon. Letztes Jahr im August standen in meinem Zimmer gute 15 leere Flaschen Wein herum und ich trank täglich. Oft schon vor 16 Uhr und teilweise auch ohne den Umweg über das Glas zu nehmen. Ich beschloss, dass es so nicht weitergehen könne. Und so kam es, dass ich vor 367 Tagen eine wirklich sauteure Flasche Wein kaufte. Vor 366 Tagen, an meinem 40. Geburtstag, stießen wir also mit diesem Wein an, auf mich, meinen Geburtstag und ein Leben ohne Alkohol. Und dann hörte ich auf. Und jetzt bin ich seit fucking 365 Tagen ohne Alkohol. Nicht ohne den Gedanken daran, nope. Aber ich trinke nicht mehr. Denn so eine Kindheit wie meine sollen unsere Kinder nicht haben.

2 Gedanken zu „365

  1. Danke, das berührt mich sehr. Ich bin selbst suchtkrank, seit 2004 trocken vom Rauchen, seit 2005 vom Alkohol. Bleibt noch genug anderes 🙈

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