Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich es bestellt habe. Irgendwann spürte ich so eine unbestimmte Sehnsucht, war es Heimweh? Mutterweh? Geborgenheitsweh vielleicht.
Meine Kindheit war ganz objektiv betrachtet nicht die Schlechteste. Ja, es gab da diesen Nachbarn, der etwas ZU nett zu uns Mädchen war (ich kann heute noch keinen Soldaten in Tarnfleck ansehen, ohne dass es mich schaudert), mein Großvater war ein verbitterter mordlustiger Alkoholiker, mein Vater ein verantwortlungsloser Säufer und meine Mutter eine Co-abhängige Märtyrerin in ewiger Opferrolle. Aber es gab auch Ferien auf dem Reiterhof (mit anderen Familien des Kreuzbundes, eines Vereins, dem sich meine Eltern angeschlossen haben, als mein Vater aufhörte zu trinken), es gab den Duft nach Kaninchen im Stall (leider allesamt in Einzelhaft in Buchtenhaltung und wir wuchsen damit auf, dass regelmäßig abgezogene Kaninchen in unserer Badewanne schwammen), wir hatten eine Katze und ich hatte eine Cousine, die ich in den Ferien wochenweise besuchte und mit der ich zum Reitstall fuhr. Noch heute würde ich wirklich gern Reitstunden nehmen, neben dem Geruch einer Bücherei oder Buchhandlung schafft nichts so sehr inneren Frieden in mir wie der Geruch einer Stallgasse. Ich hatte Bücher und diese Cousine. Und ich kannte es nicht anders.
Da ich sehr früh las (laut meiner Mutter bereits mit drei Jahren), bekam ich viele Bücher. Zu Geburtstagen, zu Weihnachten, zu Ostern. Immer waren auch Bücher unter den Geschenken. Aber an einem Geburtstag war es anders. Ich bekam eine Puppe geschenkt, eine Babypuppe mit einem rosa Herzen in ihrem furchtbar hartem Körper und Plastikgliedern, mit blondem kurzen gelockten Haar und einem klobigen Diadem auf dem Kopf. Knickte man dieser Puppe den Kopf nach hinten, blinkten das Diadem und das Herz einmal kurz auf. Knickte man den Kopf noch einmal nach hinten, leuchtete die kleine Krone eine kurze Weile und ging dann wieder aus.
Diese Puppe war dazu gedacht, dass ich von meinen Büchern mal wegkäme und irgendwas „normales mädchenhaftes“ spielte. Für mich war die Puppe ein prima Alibi. Wurde ich bestraft, musste ich eine bestimmte Zeit ohne Bücher draußen sein. „Hausarrest bringt bei ihr nichts, das belohnt sie doch nur!“ Ich kam draußen nicht besonders gut zurecht, so ohne Freunde und ohne meine Bücher. Also räumte ich den kleinen Puppenwagen bis auf die Matratze leer, schichte einige Bücher hinein, legte die Matratze auf die Bücher, richtete das Laken und die Decke und drapierte die Puppe in dem Wagen. So zog ich los, suchte mir einen einsamen Platz in einem Baum oder auf der Rutsche des Spielplatzes und las. Abends diente mir die Puppe als Taschenlampe unter der Bettdecke, denn eine echte Lampe wäre in den 14qm, die ich mir mit meinen beiden Schwestern teilte, aufgefallen.
Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich die Puppe im Internet gesucht und tatsächlich bei Etsy gefunden habe. Ich hab sie bestellt und seitdem steht dieses Paket hier, riesengroß und mit farbigem Washi-Tape geschmückt. Ich weiß, wie die Puppe aussieht und wie sie eingepackt ist. Die Verkäuferin macht das äußerst liebevoll als Geschenk.
Ich traue mich nicht, den Karton zu öffnen. Pandoras Karton.
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